Betroffenenkontrollierter Ansatz

Ziel betroffenenkontrollierter Forschung ist es, den Stimmen und Sichtweisen der Betroffenen eine Plattform zu geben und beizutragen, dass sie, die so genannten NutzerInnen des Hilfesystems, mit ihrer Expertise und ihren Erfahrungen zu einem festen Bestandteil jeder Planung im psychiatrischen Bereich werden.

Einen ersten Schritt in diese Richtung im deutschen Sprachgebiet unternahm der Paritätische Wohlfahrtsverband (Berlin) bei der Erstellung der Studie „Obdachlosigkeit und Psychiatrie aus den Perspektiven der Betroffenen“, die Jasna Russo, Mitglied des Berliner Vereins „Für alle Fälle e.V.“ und des Europäischen Netzwerks von Psychiatriebetroffenen, gemeinsam mit einem nichtbetroffenen Psychologen durchführte. Genauso wichtig wie die Ergebnisse war der Forschungsprozess an sich, in dem Wege aufgezeigt wurden, wie die Betroffenen als ExpertInnen in eine Forschung einbezogen werden können.

Die Anregung für den betroffenenkontrollierten Forschungsansatz – genannt user, user-led und survivors research – stammt aus dem angloamerikanischen Sprachraum und ist Ergebnis der dortigen Psychiatriebetroffenenbewegung, wo sich dieser neue Ansatz vor allem in einer kritischen Auseinandersetzung mit den Ansätzen traditioneller Forschung und orientiert an feministischer Forschung herausgebildet hat. Die Forschungsansätze des user research unterscheiden sich von traditionellen Forschungen in ihren Themen und Fragestellungen, in ihren Werten und der verwendeten Sprache. Allerdings gibt es keine einheitliche Auffassung darüber, was user research ist; dementsprechend existieren verschiedene Forschungspraxen. Auch die Übersetzung des Begriffs öffnet mehrere Interpretationsmöglichkeiten: „Nutzerforschung“, „nutzerorientierte Forschung“, „Betroffenenforschung“ sowie „betroffenenkontrollierte Forschung“.

Die britische Psychiatriebetroffene Vivian Lindow beschreibt, Forscher seien wie KönigInnen gegenüber ihrem Forschungsgegenstand; sie täten immer noch so, als wären sie objektiv, obwohl ihre Forschungsmethoden bekanntlich von der individuellen und sozialen Kultur geprägt seien (Lindow 2001). Die Betroffenen spielen in traditionellen Forschungen lediglich als Objekte eine Rolle. Auch aus dem Forschungsteam bleiben die Betroffenen wie selbstverständlich ausgeschlossen.

Eine weitere Variante traditioneller Forschung fragt die NutzerInnen und Betroffenen zwar nach ihren Meinungen, ihren Erfahrungen und ihrer Zufriedenheit, allerdings:

„Die Fragestellung wird allein von den Professionellen erarbeitet und geht oft an den Realitäten der Betroffenen vorbei. Manchmal werden Personen mit eigenen Erfahrungen als InterviewerInnen benutzt, um einen besseren und näheren Kontakt zu der Zielgruppe zu schaffen, die Interpretation und Analyse wird jedoch wiederum allein von den ExpertInnen gemacht. In der Ausarbeitung der Fragestellung, der Analyse und Bewertung sowie in den Schlussfolgerungen, welche aus den Forschungsergebnisse gezogen werden, bleibt die Expertenmeinung vorherrschend.“ (Russo / Fink 2003, S. 5)

Die Beteiligung der Betroffenen an der Forschung beginnt dort, wo die Betroffenen gleichrangig im Forschungsteam mitarbeiten können. Wenn eine Gleichrangigkeit in der Bezahlung und eine Beteiligung an allen Phasen der Forschung gegeben ist, kann sich diese als eine betroffenenkontrollierte Forschung bezeichnen. Dies bedeutet, dass die Betroffenen Kontrolle über alle Teile der Forschung haben: angefangen von der Finanzierung und Konzeption bis hin zur Veröffentlichung der Ergebnisse.

Gewöhnlich werden Forschungsmethoden verwendet, die auf einem Einbezug der Betroffenen in die Forschung basieren. Nichtbetroffene ForscherInnen können technische Unterstützung leisten. User research ermöglicht bisher ausgeblendete Fragen und Auseinandersetzungen mit den Themen wie der Identität der ForscherInnen, den Machtverhältnissen, ethischen Fragen oder der Frage, wem die Forschungen letztendlich gehören. Gehörte das Ergebnis traditioneller Forschung bisher dem Auftraggeber, der bei Nichtgefallen auf eine Veröffentlichung verzichten kann, liegt es nun in der Hand der Betroffenen, welche Ergebnisse und in welcher Form diese veröffentlicht werden.

Literatur

  • Lindow, Vivian: „Survivor Research“, in: Craig Newnes, Guy Holmes, Cailzie Dunn (Hg.): „This is madness too – Critical perspectives on mental health services“, Ross-on-Wye 2001, S. 135–146
  • Russo, Jasna / Fink, Thomas: „Stellung nehmen. Obdachlosigkeit und Psychiatrie aus den Perspektiven der Betroffenen“, hg. vom Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband, Berlin 2003

 


Der Artikel von Peter Lehmann wurde unter dem Titel „Das trialogische Weglaufhaus? Über das Ernst-Nehmen von Partnerschaft im psychiatrischen Bereich““veröffentlicht in: Jürgen Bombosch / Hartwig Hansen / Jürgen Blume (Hg.): „Trialog praktisch. Psychiatrie-Erfahrene, Angehörige und Professionelle gemeinsam auf dem Weg zur demokratischen Psychiatrie“, Neumünster: Paranus Verlag 2004, S.126–134. Dieses Buch ist leider vergriffen.

Aktuelle Veröffentlichung zum Thema:
Jan Wallcraft: „Betroffenenkontrollierte Forschung zur Untermauerung alternativer Ansätze. Die Rolle von Forschung im psychosozialen System“, in: Peter Lehmann / Peter Stastny (Hg.): „Statt Psychiatrie 2“, Berlin / Eugene, OR (USA) / Shrewsbury (UK): Antipsychiatrieverlag 2007, S. 358-368

Betroffenenkontrollierte Forschung

Ziel dieser Forschungsrichtung ist es, den Stimmen und Sichtweisen der Betroffenen eine Plattform zu geben und beizutragen, dass sie, die so genannten NutzerInnen des Hilfesystems, mit ihrer Expertise und ihren Erfahrungen zu einem festen Bestandteil jeder Planung im psychiatrischen Bereich werden.

Einen ersten Schritt in diese Richtung im deutschen Sprachgebiet unternahm der Paritätische Wohlfahrtsverband (Berlin) bei der Erstellung der Studie »Obdachlosigkeit und Psychiatrie aus den Perspektiven der Betroffenen«, die ein Mitglied des Berliner Vereins »Für alle Fälle e.V.« und des Europäischen Netzwerks von Psychiatriebetroffenen gemeinsam mit einem nichtbetroffenen Psychologen durchführte. Auch der Forschungsprozess spielte ein Rolle. Hier konnte deutlich gemacht werden, auf welche Art man Betroffene als Fachleute in die Forschung integrieren kann. Entwickelt haben diesen betroffenenkontrollierten Forschungsansatz (user, user-led oder survivors research) Betroffene im angloamerikanischen Sprachraum; dort bildete sich dieser neue Ansatz im wesentlichen durch die Auseinandersetzung der Psychiatriebetroffenenbewegung mit der traditionellen Forschung und durch die Orientierung an feministischer Forschung heraus. Betroffenenorientierte Forschung hat andere Themen und Fragestellungen als traditionelle Forschung, auch die Begriffe und die zugrunde liegenden Werte sind anders. Einen einheitlichen Ansatz betroffenenorientierter oder -kontrollierter Forschung gibt es allerdings nicht, insofern kann man user research, user-led research bzw. survivors research mit den unterschiedlich gewichteten Begriffen »Nutzerforschung«, »nutzerorientierte Forschung«, »Betroffenenforschung« oder »betroffenenkontrollierte Forschung« übersetzen.