Biologismus

Der Biologismus (gr. βíος bíos „Leben“ und logos/ismus) ist eine philosophische und weltanschauliche Position, die menschliche Verhaltensweisen und gesellschaftliche Zusammenhänge vordringlich durch biologische Gesetzmäßigkeiten zu erklären versucht. Gelegentlich wird als Folge hiervon auch eine entsprechende Ausgestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse angestrebt.
Biologisierende Begriffe und Theorien haben ihren Ursprung entweder in sozialphilosophischen Analogien, nach denen die Gesellschaft einen Organismus bildet, der dem menschlichen Körper ähnelt oder in der Erklärung psychologischer oder sozialer Phänomene auf ausschließlich molekularbiologischer Grundlage. Biologismus kann insofern als eine Ausprägung einer szientizistischen oder naturwissenschaftlich-reduktionistischen Position verstanden werden, nach der sich alle relevanten Fragen letztlich auf naturwissenschaftliche Probleme zurückführen lassen.

Begriffsgeschichtliche Einordnung

Der Begriff ist mit einem stark negativen Beiklang behaftet. Er wird insbesondere verwendet, um bestimmte Modelle des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts zu kennzeichnen. Geistesgeschichtlich betrachtet richtet sich der Biologismus im wesentlichen gegen Mechanismus und Vitalismus.
Da der Mensch Teil der belebten Natur ist, sind Erklärungen menschlicher Wesenszüge auch Forschungsgegenstand der Biologie, deren Erkenntnisse folglich auch als Beitrag zum fächerübergreifenden Forschungsfeld der Humanwissenschaften verstanden werden können. Mit dem Begriff „Biologismus“ wird versucht dem Alleinerklärungsanspruch der Biologie enge, wissenschaftsphilosophisch begründete Grenzen zu setzen. Zugleich werden mit ihm die schwerwiegenden weltanschaulichen, politischen und gesellschaftlichen Folgen betont, die aus einer unzureichend reflektierten, einseitig biologischen Betrachtungsweise erwachsen können.
Der Biologismus stellt auf politischer Ebene eine Gefahr dar, wenn beispielsweise unter Verweis auf ein vermeintlich allgemeingültiges Naturgesetz soziale Unterschiede unveränderlich festgeschrieben werden. Solchen Ansätzen wird dabei die problematische Erkenntnissituation des naturwissenschaftlichen Beobachters gegenübergestellt:

  • So gehen auch dessen fachwissenschaftliche Forschungen letztlich von einer – notwendigerweise unvollständigen, nur teilweisen – Beobachtung eines bestimmten gesellschaftlichen Zustandes in einem spezifischen (zeitlichen) Zusammenhang aus. Hierzu steht im Widerspruch, dass auf dieser Grundlage allgemeine, abstrakte Gesetzmäßigkeiten hergeleitet werden sollen, die ein biologistisches Weltbild stützen.
  • Darüber hinaus sind auch die dazu eingesetzten Methoden und Fragestellungen, die das Ergebnis maßgeblich beeinflussen können, zeit- und kulturabhängig, obgleich für das Forschungsergebnis überzeitliche Gültigkeit beansprucht wird. Ein solches Vorgehen ist jedoch aus diesen und weiteren Gründen erkenntnistheorethisch problematisch und letztlich inakzeptabel.

Der Begriff dient somit vorrangig der Abgrenzung gegenüber Gedankengut, dessen biologisch dominierte Ausrichtung bemängelt wird. Eine Verwendung ohne (mehr oder weniger ausdrücklichen) abwertenden Beiklang tritt selten auf.

Gesellschaftliche Wirkungsweise

Viele politische Strömungen (u. a. der Faschismus) haben biologistische Erklärungsmodelle für ihre Zwecke instrumentalisiert, indem sie Biologismen zur Rechtfertigung sozialer Ungleichheit, Ausbeutung und Unterdrückung verwendeten. Diskriminierungen gehen häufig einher mit einer biologistischen Argumentationsweise, der drei Funktionen zukommen:

  • Unterscheidung: Der Unterschied zwischen der diskriminierenden und der diskriminierten Gruppe wird durch vermeintlich biologisch gegebene, also angeborene Merkmale festgeschrieben.
  • Unveränderbarkeit: Dieser Unterschied wird als unveränderbar behauptet, die Möglichkeit einer diesbezüglichen Veränderung durch sozialen Wandel wird verneint.
  • Rechtfertigung: Ein tatsächlich gegebenes oder behauptetes Faktum der Natur wird zur Rechtfertigung bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse benutzt.

Biologismus wird in diesem Zusammenhang als besondere Spielart der Ontologisierung und des Essentialismus gedeutet. Der Versuch im Rahmen des Biologismus aus den Verhältnissen in der Natur („Sein“) Werte für die menschliche Gesellschaft abzuleiten („Sollen“), wird in der modernen Ethik überwiegend als naturalistischer Fehlschluss („naturalistic fallacy“) eingestuft.

Erscheinungsformen

Als Erscheinungsformen des Biologismus lassen sich unter anderem anführen:

  • der Malthusianismus mit seiner speziellen Deutung der Bevölkerungsentwicklung;
  • der Sozialdarwinismus, der das darwinsche Prinzip der natürlichen Auslese im „Kampf ums Dasein“ zum Bewegungs- und Entwicklungsgesetz auch des menschlichen Gesellschaftslebens erklärt, wobei die Bereitschaft zum Führen von Kriegen häufig als immanenter Wesenszug des Menschen gedeutet wird; hierunter fallen auch geopolitische Ansätze, die die Beziehungen zwischen den Staaten und Völkern sozialdarwinistisch als „Kampf um Lebensraum“ (Karl Haushofer) interpretieren;
  • die moderne Soziobiologie und Evolutionäre Psychologie, soweit sie psychologische und gesellschaftliche Phänomene ausschließlich oder ganz überwiegend auf der Grundlage genetischer Faktoren erklärt.

Biologismus findet sich häufig auch in sozialen Erklärungsmodellen, so etwa:

  • auf dem Gebiet der Geschlechterpolitik vorrangig durch Verweise auf biologische Verschiedenheiten zwischen den Geschlechtern, aus denen unreflektiert vermeintlich unabdingbare gesellschaftlich- kulturelle Konsequenzen gezogen werden, wodurch sexistische Ausgelegungen entstehen können.
  • in rassistischem Gedankengut, typischerweise in Form der Unterscheidung zwischen „höher-“ und „minderwertigeren“ Menschenrassen .
  • in den Lehren der klassischen vergleichenden Verhaltensforschung, etwa im Werk von Konrad Lorenz und Irenäus Eibl-Eibesfeldt, die menschliches Verhalten vielfach mit Hilfe von Analogien aus dem Tierreich zu erklären versuchen.
  • in der Kriminologie (paradigmatisches Beispiel: Cesare Lombroso), sofern kriminelles Verhalten als Folge einer vererbbaren Anlage betrachtet bzw. einer ausschließlich biologischen Ursache zuordnet wird.
  • als Erklärungsmodell für den Egoismus des Menschen, wobei dieser durch eine unmittelbare Analogie aus dem Tierreich als unabänderlicher tierischer Antrieb hergeleitet wird, ohne gesellschaftliche Faktoren zu reflektieren.

Einige Veröffentlichungen verwenden den Begriff Biologismus im Sinne von Biozentrismus.