Parentifizierung

Parentifizierung (v. lat. parentes ‚Eltern‘ und facere ‚machen‘) beschreibt die Rollenumkehr zwischen Eltern und Kind, wobei die Eltern ihre Elternfunktion unzureichend erfüllen und dem Kind eine nicht kindgerechte, überfordernde „Eltern-Rolle“ zuweisen.

Psychodynamik

Parentifizierung kann als eine Bindungsstörung betrachtet werden, bei der die elterliche Bezugsperson erwartet, dass das Kind ihr als Bindungsobjekt zur Verfügung steht. Solche Eltern können aufgrund einer Eigenproblematik selbst kein sicheres Bindungsobjekt für das Kind sein, weil sie überlastet oder selbst „bedürftig“ sind. Die Erwartungshaltung resultiert meist aus der eigenen Unsicherheit bezüglich der Verfügbarkeit von Bindungspersonen. Sie hatten in der eigenen Kindheit keine geeigneten Bindungspersonen oder die Lebenssituation ist erschwert durch problematische Partnerschaften, Trennung und Scheidung, Selbstunsicherheit, Substanzmissbrauch, psychische Störungen oder Krankheiten.

Unter Geschwistern wird häufig das älteste Kind oder das Kind mit der höchsten Sensibilität und Empathiefähigkeit parentifiziert. Kinder mit behinderten, sehr viel jüngeren oder kranken Geschwistern haben oftmals die Aufgabe einer Elternfunktion. Trotz der daraus entstehenden persönlichen Nachteile, versuchen viele Kinder die nicht kindgerechte Rollenerwartung zu erfüllen um weitere Verluste zu vermeiden und in der Nähe der Eltern bleiben zu können. Dies muss als Überlebensstrategie verstanden werden und wird somit den anderen Bedürfnissen übergeordnet.

Mögliche Folgen für das Kind

Auswirkung auf die Kindheit


Die gesunde Entwicklung von Autonomie und Individuation des Kindes wird durch die Parentifizierung gestört.
Kinder können durch Überforderung mit den von den Eltern bewussten oder unbewussten unangemessenen Erwartungen ihre Kindheit (Spontanität, Lebhaftigkeit, Sorglosigkeit) verlieren. Sie entwickeln möglicherweise massive, nicht realitätsangepasste Anforderungen an sich selbst, Perfektionismus, Isolation, Einsamkeit, emotionale Belastung aufgrund von Spannung zwischen dem Gefühl der Macht und der Angst vor dem Versagen, vermindertes Selbstwertgefühl, Verhaltensauffälligkeiten, intellektuelle Beeinträchtigungen, Depressionen, somatische Beschwerden, Suizidgedanken, Essstörungen, Substanzmissbrauch und andere.
Längerfristige Auswirkung auf die Persönlichkeitsentwicklung


Die Entwicklungsstörungen in der Kindheit haben teils Auswirkungen bis ins Erwachsenenalter. So können auch später psychische Störungen wie vermindertes Selbstwertgefühl, Depressionen, Suizidgedanken, Essstörungen oder Ängstlichkeit auftreten. In Bezug auf das Sozialverhalten sind mögliche Folgen die Schwierigkeit, Hilfe von anderen anzunehmen oder anzufordern, das Aufweisen von zwanghaftem Fürsorgeverhalten, die Flucht in Alkohol und Drogen sowie Überanpassung und Kommunikationsdefizite. Oftmals treten Probleme mit der Ablösung vom Elternhaus auf, da die Autonomieentwicklung nicht stattfinden konnte und stellvertretend ein „falsches Selbst“ entwickelt werden musste. Auch Einsamkeit und Isolation wirken sich teils stark auf die Persönlichkeitsentwicklung aus, so können Probleme, Unsicherheiten oder gar Phobien in, respektive vor längerfristigen Beziehungen auftreten.
Häufig geschieht die Weitergabe der „vertauschten Rollen“ über nachfolgende Generationen.

Maßnahmen

Vorsorgemaßnahmen


Zum Schutz des betroffenen Kindes ist eine Früherkennung von großer Bedeutung. Das Kind muss unterstützt und dessen Selbstwertgefühl und Persönlichkeit gestärkt werden. Des Weiteren ist zur Intervention und Prävention – soweit als dies möglich ist – eine Änderung des Verhaltens der Eltern notwendig sowie ein gutes soziales Netzwerk des Kindes zu aktivieren.
Die Trennung des Kindes von der Familie ist dagegen kein Thema.
Problematisch
Veränderung auf Seiten der Eltern ist nur erfolgreich, wenn diese Einsicht zeigen. Sie müssen den Mut finden, eine Selbstreflexion zu beginnen, um beispielsweise im Rahmen einer Psychotherapie, diese Verstrickung aufzulösen.
Spätmaßnahmen

Beeinträchtigungen im Leben eines Menschen durch dessen Parentifizierung können in einer Psychotherapie gemildert oder behoben werden.