Totale Institution

Totale Institution ist ein soziologischer Begriff, der von Erving Goffman entfaltet wurde. Erstmals verwendet wurde die Bezeichnung vom französischen Archtitekten Louis-Pierre Baltard (1764-1846).

Der Begriff bezeichnet Institutionsformen (Organisationsformen), die alle Lebensäußerungen eines sozialen Akteurs zu regeln und zu kontrollieren geeignet oder bestimmt sind. Herkömmliche Beispiele dafür sind Klöster, Gefängnisse oder Schiffsbesatzungen.

Totale Institutionen bei Goffman

Nach Goffman ist die totale Institution eine Unterform des allgemeineren Begriffs „soziale Institution“, die er definiert als „Räume, Wohnungen, Gebäude oder Betriebe, in denen regelmäßig eine bestimmte Tätigkeit ausgeübt wird“. Sie können sich prinzipiell nach Kriterien, wie z. B. Zugänglichkeit, Zielsetzung und Umfassendheit unterscheiden. Die totale Institution bildet einen Extremfall auf letzterer Skala, da sie „durch Beschränkungen des sozialen Verkehrs mit der Außenwelt“ einen „allumfassenden oder totalen Charakter“ annimmt. Eine Institution wie ein Fußballverein oder ein Laboratorium nimmt also nur jeweils einen Teil des Lebens ein, während ein Insasse in einer totalen Institution, wie einem Gefängnis einer geschlossenen Abteilung, seine gesamte Zeit dort verbringt.

Eine Totale Institution weist nach Goffman folgende Merkmale auf:

  • Totale Institutionen sind allumfassend. Das Leben aller Mitglieder findet nur an dieser einzigen Stelle statt und sie sind einer einzigen zentralen Autorität unterworfen.
  • Die Mitglieder der Institution führen ihre alltägliche Arbeit in unmittelbarer (formeller) Gesellschaft und (informaler) Gemeinschaft ihrer Schicksalsgefährten aus.
  • Alle Tätigkeiten und sonstigen Lebensäußerungen sind exakt geplant und ihre Abfolge wird durch explizite Regeln und durch einen Stab von Funktionären vorgeschrieben.
  • Die verschiedenen Tätigkeiten und Lebensäußerungen werden überwacht und sind in einem einzigen rationalen Plan vereinigt, der dazu dient, die offiziellen Ziele der Institution zu erreichen.

Mit dem Eintritt in die Institution wird der einzelne von der Gesellschaft isoliert und erfährt einen Bruch mit den früheren Rollen. Goffman spricht vom bürgerlichen Tod des Individuums und einer Diskulturation, die „[…] darin besteht, dass jemand gewisse, im weiteren Bereich der Gesellschaft erforderliche Gewohnheiten verliert oder sie nicht erwerben kann.“ Die demütigende, herabsetzende Behandlung sowie der auftretende Rollenverlust bewirken nach Goffman eine Beschränkung des Selbst.
Goffman geht auf die verschiedenen Formen der Aufnahmeprozedur ein, die den zukünftigen Insassen demütigen und ihn von seiner Freiheit und Würde entrechten. So tragen das Entkleiden, die Wegnahme des Eigentums und der Verlust des vollen Eigennamens oder der Ansprache beträchtlich zur Verstümmelung des Selbst bei. Hier betont Goffman die Wichtigkeit der Kleidung und anderer Habseligkeiten, die er als Identitätsausrüstung bezeichnet und die somit der Aufrechterhaltung der persönlichen Fassade dienen. Die Wegnahme dieser Identitätsausrüstung führt zu einer persönlichen Entstellung, weil dadurch das Individuum daran gehindert wird, anderen gegenüber sein Selbstbild zu präsentieren.
Das Verhalten der Insassen einer totalen Institution setzt sich nach Goffman aus einer Kombination von „sekundären Anpassungen, Konversion, Kolonisierung und Loyalität“ zusammen. Kolonisierung versteht er als Anpassung an die Welt der Institution: „Der Insasse nimmt den Ausschnitt der Außenwelt, den die Anstalt anbietet, für die ganze, und aus den maximalen Befriedigungen, die in der Anstalt erreichbar sind, wird eine stabile, relativ zufriedene Existenz aufgebaut.“ Bei der Konversion verinnerlicht der Insasse das amtliche Urteil über seine Person und spielt die Rolle eines perfekten Insassen. Ein kolonisierter Insasse versucht innerhalb der gegebenen beschränkten Möglichkeiten ein freies Gemeinschaftsleben zu gestalten. Die Haltung eines Konvertiten ist dagegen eher diszipliniert, moralistisch und monochrom. Weitere mögliche Anpassungsformen können die Einnahme eines kompromisslosen Standpunktes (Rebellion) oder der vollkommene Rückzug (Regression, Hospitalismus) sein.

Fünf Gruppen der totalen Institutionen nach Zielsetzungen

zur Fürsorge von unselbstständigen und harmlosen Menschen (Blinden-, Alters-, Kinderheime, Waisenheime und Psychiatrische Kliniken)

Ungeachtet der verschiedenen Ziele sei das zentrale Merkmal der Institutionen „die Handhabung einer Reihe von menschlichen Bedürfnissen durch die bürokratische Organisation ganzer Gruppen von Menschen“, aus der automatisch eine Trennung zwischen Verwaltern (dem Personal) und Verwalteten (den Insassen) entsteht. Diese Trennung ist die Hauptquelle von sozialen Konflikten und Problemen innerhalb der Institution.

Literatur

  • Louis-Pierre Baltard: Architectonographie des prisons (1829).
  • Erving Goffman: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973 [orig.: Asylums. Essays on the Social Situation of Mental Patients and other Inmates. Chicago 1961]
  • Ralf Lisch: Totale Institution Schiff, Berlin: Duncker und Humblot, 1976, ISBN 3-428-03664-6
  • Fabian Göbel: Die stationäre Behindertenarbeit – Begriffe, Vergleiche, Ausblicke (2007)
  • Vicki Täubig: Totale Institution Asyl: empirische Befunde zu alltäglichen Lebensführungen in der organisierten Desintegration, Weinheim; München: Juventa-Verlag, 2009, ISBN 978-3-7799-1793-9